Erleben Sie den Alltag neu

Empfinden Sie auch den Alltag als Zumutung? Grau, trist, langweilig? Ein Irrtum.

Sie kennen das: In den Nachrichten geht die Welt unter, aber im ganz normalen Alltag ist davon nichts zu spüren. Erst recht nicht, wenn man aus dem Fenster schaut oder in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist. Selbst bei der Arbeit droht Langeweile, wenn einem nicht gerade der Chef oder die Kunden Feuer unterm Hintern machen. Und Langeweile aushalten ist ja nicht jedermanns Sache.

Ganze Industrien nähren sich aus diesem Mangel an vermeintlich fehlender Action. Dank mobilem Internet lassen sich deren Angebote auch überall konsumieren: in der Kantine, im Bett, in der Bahn. Das finden viele toll und chatten, daddeln, surfen und posten, als hinge ihr Leben davon ab. Manche vergessen dabei mitunter, wie lebenswichtig es ist, die Wirklichkeit zu beachten, besonders im Straßenverkehr.

Spannender Alltag

Dabei ist der Alltag alles andere als langweilig. Es kommt eben darauf an, was man draus macht. Oder vielmehr: wie man es sieht. Das haben schon viele Autoren von Weltrang bewiesen. Nehmen Sie nur „Ulysses“ von James Joyce. Oder wenn Ihnen das zu schwere Kost ist: Peter Kurzeck und seinen Romanzyklus „Das alte Jahrhundert“. Ich habe zuletzt den Roman „Oktober und wer wir selbst sind“ gelesen und war sehr bezaubert. Auf meiner Liste steht deshalb unbedingt noch mehr, darunter „Der vorige Sommer und der Sommer davor„, erst letztes Jahr aus dem Nachlass veröffentlicht.

Selber schreiben, leicht gemacht

Wenn Sie jetzt denken, pöh, kann ich nicht: Versuchen Sie’s doch einfach mal. So schwer ist das gar nicht. Greifen Sie frisch zur Feder oder in die Laptoptasten – und schreiben einfach auf, was ihnen gerade durch den Kopf geht. Nicht einfach so, sondern angesichts des Alltags. Also dessen, was Sie gerade vor sich sehen oder an das Sie sich frisch erinnern.

Als kleine Hilfestellung wählen Sie das beliebte Format der To-do-before-you-die-Listen. Beschreiben Sie das, was Sie sehen und denken. Und zwar so, als müssten Sie es unbedingt sehen und denken. Beginnen Sie mit der allgemeinen Beschreibung von Wetter und Ort. Hier ein kleines Beispiel:

An einem sonnigen Tag nach langen Regenfällen in einen breiten Fluss starren

Braune Stückchen vorbeitreiben sehen und sie für Holz halten
Pflanzenteile vorbeitreiben sehen und sie für Wasserpflanzen halten
Dir wünschen, mehr über Wasserpflanzen zu wissen
Denken, das mal eben bei Wikipedia auf den Handy nachschlagen zu können, es dann aber lassen
10 vorbeitreibenden Teilen wissenschaftlich klingende Namen geben
Die Sprache des laut Telefonierenden fünf Meter neben dir erkennen, z.B. als Türkisch
Die Sprache der zwei sich unterhaltenden Frauen drei Meter neben dir zur anderen Seite zuerst für Thailändisch und dann für Schwiitzerdütsch halten
Wissen wollen, welche Sprache die lesende junge Frau zwei Meter neben dir zur Seite des türkischsprachig Telefonierenden spricht
Dich fragen, ob in dem Koffer, den sie bei sich hat und der wie ein moderner Geigenkasten aussieht, eine Geige ist
Dich fragen, ob sie für das Musizieren bezahlt wird oder es mal werden will
Dir vorstellen, dass sie ihr Instrument als Kind gehasst hat
Dir vorstellen, dass sie es jetzt mehr liebt als hasst, aber immer noch ein bisschen hasst
Dir überlegen, ob sie es stetig ein kleines bisschen hasst oder nur bei bestimmten Gelegenheiten
Sich drei Gelegenheiten vorstellen, zu denen sie es sogar mehr hasst als liebt
Die junge Frau nicht danach fragen, später am Abend daran denken und es nicht bereuen
Braune Stückchen vorbeitreiben sehen und sie für Kerne von Pflaumen halten
Den Fluss bis zum anderen Ufer überblicken und erkennen, dass der Pegel höher ist als das letzte Mal, als du hier warst
Den Fluss bis zum anderen Ufer überblicken und erkennen, dass die Fließgeschwindigkeit höher ist als das letzte Mal, als du hier warst
Vermuten, dass es jetzt gefährlicher ist als sonst, darin zu schwimmen
Vermuten, dass es nicht besonders schön sein kann, in diesem braunen und trüben Wasser zu schwimmen
Dir vorstellen, wie es wäre, jetzt in diesem braunen und schnell fließenden Wasser zu schwimmen
Dir vorstellen, was du anziehen müsstest und welche Sicherheitsvorkehrungen du am besten träfest, um in einem trüben und reißenden Fluss wie diesem zu schwimmen
Feststellen, dass jetzt niemand in diesem Fluss schwimmt
An das letzte Mal denken, an dem du jemanden darin hast schwimmen sehen
An das letzte Mal denken, an dem du selbst darin geschwommen bist
Feststellen, dass es nicht dieses Jahr war und damit schon zu lange her
Das Braun des Wassers mit Scheiße vergleichen und sich kurz ekeln
Das Braun im Sonnenlicht für unpoliertes Gold halten und sich freuen
Scheiße mit Gold vergleichen und schmunzeln
In die vom Wellengang gebrochene Reflexion der Sonne starren
Die Augen schließen und beglückt feststellen, dass der wellenbewegte Wechsel der Sonnenreflexion durch deine geschlossenen Lider scheint
Tief einatmen
An andere Gelegenheiten denken, zu denen wellenbewegte Sonnenreflexionen durch deine geschlossenen Lider schienen oder geschienen haben könnten
Lange ausatmen und lange nicht mehr einatmen
Glück verspüren, als Du dann doch wieder einatmest
Dir vorstellen, wie es wäre, unter Wasser zu atmen
Überlegen, wie es wäre, so zu sterben
Denken, dass Du nur zwei Schritte machen müsstest, um das auszuprobieren
Denken, dass es ein unangenehmer Tod wäre
Denken, dass es in diesem schlammtrüben Wasser, dass dich an Scheiße oder unpoliertes Gold denken lässt, noch unangenehmer wäre als beispielsweise in einem klaren kalten Bergsee
Überlegen, es nachts zu tun, wenn die Farbe keine Rolle spielt
Denken, dass das Wasser nachts aussieht wie flüssiges Blei
Entschließen, es überhaupt nicht zu tun
Entschließen, wieder mal in die Berge zu fahren an einen klaren kalten Bergsee
Vermuten, dass Du in einem klaren kalten Bergsee vielleicht eher an Unterkühlung sterben würdest als wirklich zu ertrinken
Ein schnelles Motorboot vorbeifahren sehen
Die Sekunden zählen, bis die Wellen ans Ufer schlagen
Mit dir selbst oder dem türkisch Telefonierenden oder den zwei Frauen wetten, ob die Wellen über die erste Stufe der Ufertreppe schlagen oder nicht
Dich freuen, als sie über die erste Stufe schlagen
Dich freuen, dass du und die zwei Frauen links von dir und die lesende Geigerin rechts von dir auf der dritten Stufe sitzen, mit den Füßen auf der zweiten Stufe
Berechnen, wie groß und oder wie schnell und oder wie nah vorbeifahrend ein Motorboot sein muss, damit die Wellen auch die zweite Stufe überspülen
Vermuten, dass ein Motorboot gar nicht so schnell sein oder so nah vorbeifahren darf, dass es Wellen erzeugt, die auch die zweite Stufe überspülen
Berechnen, wie viele Male das Motorboot Wellen erzeugen muss, die über die erste Stufe schlagen, um die erste Stufe völlig von der Vogelscheiße zu reinigen
Dich wundern, dass du lange kein Tier mehr auf dem Wasser gesehen hast
Dich wundern, dass just in dem Moment ein Schwan von rechts herangeschwommen kommt
Dich fragen, ob es Zufall ist, dass Dinge passieren, sobald du sie denkst
Dich fragen, ob du nicht eigentlich in einer Matrix lebst und gar nichts wirklich passiert
Dich fragen, ob es nur deshalb den Klimawandel gibt, weil alle in der Matrix sich immer nur schönes Wetter wünschen
Dir sagen, dass dann aber auch der Klimawandel gar nicht wirklich passiert
Dich fragen, ob überhaupt etwas passiert
Dich fragen, was überhaupt wirklich ist
Über das Wort „wirklich“ nachdenken
Das Wort „wirklich“ zwanzig Mal hintereinander sagen ohne Pause, bis es seine Bedeutung verliert