Denken lassen

Gute Ideen brauchen Freiraum. Den muss man sich nehmen – oder geben, je nach dem.

Zeit ist eine seltsame Sache. Meistens hat man zu wenig davon, und wir optimieren uns einen Wolf, um mehr Tat in die wenige Zeit zu packen. Manchmal haben wir aber auch zuviel davon. Das kann ganz plötzlich passieren, vor allem um

den Jahreswechsel herum. Da muss nur mal die Schwiegermutter ausrutschen und den angedrohten Besuch absagen. Nach dem ersten Hurra kommt das große Und jetzt? Schon droht das Schreckgespenst der Langeweile.

Die versucht man tunlichst zu vermeiden. Umsichtige Zeitgenossen sorgen vor und planen alle Eventualitäten mit ein, haben also zum Beispiel einen Skiurlaub gebucht und die Schwiegermutter gleich mit eingecheckt. Kommt nicht? Macht nichts. Andere stehen allerdings urplötzlich vor einem Haufen freier Zeit – und machen sich daran, sie zu vertreiben. Möglichkeiten gibt es ja reichlich, erst recht in diesen digitalen Zeiten.

Langeweile vs. Muße

Dabei könnte man die freie Zeit auch einfach als solche genießen. Dann wird aus der Langeweile deren gut gelaunte Schwester: die Muße. Und die ist überaus produktiv. Im vermeintlichen Nichtstun passiert nämlich Außerordentliches: Das Gehirn arbeitet alleine weiter und nimmt sich, frei von äußeren Reizen, das vor, was schon da ist. Wer das aushalten und womöglich noch steuern kann, erlebt erstaunliche Ergebnisse.

Dumm nur, dass Muße und Langeweile für Außenstehende nicht zu unterscheiden sind. Beides sieht irgendwie nach Faulheit aus, eine der sieben Todsünden, zu bestrafen mit Fegefeuer und Altersarmut. Solche Vorwürfe werden meist von Menschen geäußert, die sich nicht vorstellen können, dass jemand nur denkt. Die selbst aber meinen, dass Reden eine ungemein wichtige Tätigkeit sei. In meiner Angestelltenzeit gab es davon einige. Sie lungerten um meinen Schreibtisch herum und sobald sie mich untätig dünkten, quatschten sie mich voll mit ihren Erlebnissen vom Golfplatz oder ihren Entdeckungen von Rechtschreibfehlern in der Tageszeitung. Davon war ich dann tatsächlich gelangweilt.

Denkzeit ist kostbar

Leider ist das im Zeitalter digitaler Nachrichten noch viel einfacher geworden und die Störenfriede dreister. Sie gehen schlicht davon aus, dass Nichtstun unbedingt zu vermeiden sei und bombardieren einen mit E-Mails oder Whats-App-Messages. Glücklicherweise bin ich in diesem Zeitalter selbstständig und muss keinem Chef in der Mittagspause erklären, warum ich seinen Tweet von heute morgen noch nicht bejubelt habe. Andere sind nicht in dieser glücklichen Lage und bekommen gehörig die Zeit vertrieben.

Die Gefahr bei solchem Fremdvertrieb liegt nun darin, die Zeit so lange vertrieben zu bekommen, bis keine mehr da ist. Die Ergebnisse sehen dann auch oft so aus: oberflächlich, albern, unausgegoren. Lauter Beta-Versionen. Die erste Idee ist nämlich entgegen der gängigen Redewendung selten die beste. Um eine Aufgabe gründlich durch-, weiter- und vielleicht sogar zu Ende denken, braucht es einfach Muße. Der Vorwurf des Müßiggangs ist da völlig unangebracht – und im Übrigen auch physiologisch haltlos. Schließlich ist das Gehirn der mit Abstand größte Energieverbraucher unter den menschlichen Organen. Da kann man das reine Denken wohl kaum als Faulheit bezeichnen.

In diesem Sinne ein erfolgreiches Jahr 2017. Und genießen Sie die Momente der Muße.