¡Viva la ronda!

Wer die Ronda beim Tango beobachtet, kann einiges darüber erfahren, wie gesellschaftliche Systeme funktionieren – und wie nicht.

Als ich angefangen habe mit dem Tangotanzen, gab es noch nicht so viele Tanzgelegenheiten wie heute. Das Jahrtausend war noch jung, Tango-Festivals selten, Tango-Marathons exotisch und Encuentros noch nicht erfunden. Entsprechend voll waren die regelmäßigen lokalen Veranstaltungen, die sogenannten Milongas. Vor allem am Wochenende. Zum Beispiel das Tango Colón in Köln, einer der Hotspots jener Zeit.

Selbstregulierende Systeme

Jeden zweiten und vierten Samstag im Monat füllte sich die riesige Tanzfläche mit Tangosüchtigen aus ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland. Und es füllte sich bis zum Anschlag. Trotzdem gab es so etwas wie Tanzfluss.

Mit dem Verhaltenskodex aus Buenos Aires, den Códigos, waren allerdings die wenigsten vertraut. Rückblickend glaube ich sogar, dass vielen nur eine einzige Regel bewusst war: dass man gegen den Uhrzeigersinn vorwärts tanzt, in einer sogenannten Ronda. Aber weil es immer so voll war, hatten die Teilnehmenden sich mit der Situation arrangiert.

Das System hat sich sozusagen selbst reguliert. Manchmal haben die Tanzenden auch mehr oder weniger höflich verbal mitreguliert. Dennoch gab es mitunter schwere Blessuren bis hin zu blutenden Wunden.

Geregelte Ronda

Das hat sich zum Glück etwas gebessert. Trotzdem ist es heute anstrengender auf den Milongas, besonders wenn es mal richtig voll wird. Das kommt zwar nicht mehr so oft vor, weil es viel mehr Veranstaltungen gibt als früher – aber genau das ist das Problem. Die meisten sind das nicht gewohnt, haben das nicht gelernt, und schon bricht das Chaos aus. Mit der Folge, dass ich mich nicht mehr ganz meiner Partnerin und der Musik widmen kann, sondern mich mit Schadensabwehr befassen muss.

Dabei ist es gar nicht so schwer, wenn man die Regeln der Ronda beachtet. Im Kern sind das sogar nur drei:

• stetig vorwärts tanzen
• immer hinter dem Paar vor einem bleiben
• den Abstand zu diesem gleichmäßig halten

Es gibt noch ein paar mehr, was auf den ersten Blick sehr verwirrend sein kann. Aber die meisten leiten sich aus den drei genannten ab.

Freizeitkapitalistischer Blödsinn

Natürlich passt das nicht jedem. Bei manchen löst das Wort „Regel“ eine automatische Trotzreaktion aus. Als ich mal einen Führenden bat, doch nicht immer dynamische Rückschritte gegen die Tanzrichtung – also auf meine Partnerin und mich zu! – zu tanzen, entgegnete der: „In meiner Freizeit möchte ich mich nicht an Regeln halten.“

Na prima, dachte ich, willkommen im Kindergarten. Oder im turbokapitalistischen Freizeitcamp. Spaßmaximierung analog zur Gewinnmaximierung. Die Freiheit des Anderen? Egal. Der Regelverstoß als Grundprinzip. Ich nenne das „Vernunftverstoß“. Interessant zu beobachten, welche Auswirkungen solche Vernunftverstöße auf die Gesamtmenge haben.

Metastabiles System

Nehmen wir ein anderes und eigentlich harmloses Phänomen unter die Lupe: den Abstand zum Vorderpaar zu groß werden lassen. Tritt meist dann auf, wenn ein Paar innig auf der Stelle schmust oder Figuren abfeiert. Kann mal vorkommen, kein Problem. Die Ronda ist ein metastabiles System, also stabil gegen kleine Änderungen. Aber instabil gegen größere.

Wenn also jemand dauernd extrem langsam tanzt, kommt es zum Stau hinter dem Paar. Mit der Folge, dass viele deutlich weniger Platz zum Tanzen haben als eigentlich vorhanden wäre. Einige werden versuchen, das Paar zu überholen und riskieren Kollisionen mit Paaren auf der zweiten Spur. Also entsteht schon durch einen einzelnen Egoismus eine ziemliche Unruhe auf der Tanzfläche. Diese Metastabilität ist umso labiler, je voller die Tanzfläche ist.

(Randbemerkung: Die stabile Phase wäre in diesem Fall, wenn alle stehenblieben und auf der Stelle tanzten. Das ist aber nicht Idee und Konsens von Tango. Das auszuführen würde allerdings den Rahmen hier sprengen.)

Ronda als Gemeinschaft

Dabei müssen sich die Tanzpaare eigentlich nur eins klar machen: dass sie nicht allein auf der Welt sind – die in diesem Fall die Tanzfläche ist. Es braucht gegenseitige Rücksichtnahme für eine schöne Ronda. Die „Regeln“ sind dabei nur Anleitungen, wie das technisch umzusetzen ist. Genau dazu sind Regeln ja da: einen Prozess zu regeln, nicht sinnfrei zu reglementieren.

Wenn das alle beachten, haben alle den gleichen Raum, die gleichen Rechte. Hört sich sozialistisch an? Wenn „sozialistisch“ meint, nicht einem anderen was wegzunehmen, damit man selbst mehr hat, dann ist es das. Dann sind die Tango-Marathons und Encuentros, die ich besuche, große Sozialistentreffen. ¡Viva la ronda! ¡Viva la revolución!

Mit Gleichmacherei hat das allerdings nichts zu tun. Denn erstens kann jedes Paar mit seinem Raum anstellen, was es will. Und zweitens gibt es außerhalb der Tanzfläche einen mehr oder weniger heftigen Wettbewerb um die besten Tänzerinnen und Tänzer. „Heute Abend zieh ich mein Competition-Dress an“, sagte mal eine Dame zu einer anderen, belauscht und berichtet von einer weiteren Dame auf der Toilette. Hoffentlich war die Ronda so schön wie das Dress.