Rhythm is it

Zeichensetzung ist kompliziert? Ist sie nicht, wenn man genau hinhört.

Zugegeben: Die jüngste Reform der deutschen Rechtschreibung ist mittlerweile schon ein alter Hut. Aber vielleicht erinnern Sie sich noch an die Wellen, die sie geschlagen hat. So mancher sah ja durch den Wegfall des Buchstabens ß die Schönheit der Sprache oder gar das Abendland gefährdet. Dabei wurde er gar nicht gänzlich eliminiert, sondern

nur nach kurzen Vokalen.

Ehrlich gesagt, hat mich das alles nicht sonderlich aufgeregt. Warum Sprachästhetik an einer Schreibregel hängen soll, will mir nicht einleuchten. Und den Zusammenhang von ß und Abendland können Sie ja mal einem Schweizer erklären. Die Eidgenossen kommen seit je ganz ohne aus. Gut, die müssen dann eben die Bedeutung von „Busse“ aus dem Zusammenhang erkennen. Im Straßenverkehr umgekommen – oder „verunfallt“, wie der Schweizer sagt – ist deshalb aber noch niemand.

Zustände wie im Swinger-Club

Das einzige, was mich doch etwas wurmt, ist diese Swinger-Club-Mentalität, die seitdem im Schriftdeutsch herrscht. Aus vielen Regeln sind Empfehlungen geworden – alles kann, nichts muss. „Selbständig“ ist nicht falsch, aber „selbstständig“ ist richtiger. Das macht die Kommunikation nicht gerade einfacher. Ganz heikel wird es, wenn die alte Regel empfohlen wird, das Neue aber bedingt möglich ist. So ist das beim Komma bei erweitertem Infinitiv.

Ein Beispiel:
Der Texter erinnerte sich, den Satz schon mal gelesen zu haben.

Nach reformierter deutscher Rechtschreibung auch erlaubt:
Der Texter erinnerte sich den Satz schon mal gelesen zu haben.

Komma weglassen ist nicht erlaubt, wenn Missverständnisse entstehen können:
„Der Texter zwang sich, nicht in die Keksdose zu greifen.“

Das können Sie ja mal selbst ausprobieren.

Oder kann das weg?

Das „Kann“ hat bei vielen dazu geführt, das Komma ganz wegzulassen – nicht nur bei erweitertem Infinitiv, sondern irgendwie immer. Darunter leidet natürlich die Lesbarkeit eines Textes, von der Sprachschönheit mal abgesehen.

Allerdings darf sich hier niemand wundern, schließlich sind Kommaregeln so beliebt wie Schmerzen im Gesäß, und wenn da einer sagt: „Könnt ihr weglassen“, wirkt sofort die selektive Wahrnehmung: Die Bedingungen, die hinter dem „weglassen“ kommen, werden geflissentlich überhört.

Kann ich gut verstehen. Mehr als drei, vier Kommaregeln sind auch mir nicht geläufig. Dabei gibt es weitaus mehr, und durch die Reform sind es nicht weniger geworden. Wer will sich das alles merken? Ich plädiere daher in der Zeichensetzung für einen ganz anderen Ansatz.

Musikalisch gesehen

Für mich sind Satzzeichen nichts anderes als Pausenzeichen, vergleichbar den Pausenzeichen in der Musik. Wenn der Satz noch nicht zu Ende ist, ich aber eine kleine Sprechpause mache, setze ich ein Komma; oder ein Semikolon, falls die Pause ein wenig länger ist. Falls eine Erläuterung folgt: Doppelpunkt. Und wenn ich den Teil nach der Pause besonders betonen will – setze ich einen Gedankenstrich. Ist der Satz zu Ende, kommt als ganze Pause ein Punkt.

Das ist ja Zeichensetzung nach Gefühl, werden Sie sagen. Stimmt. Nach Rhythmusgefühl. Das gibt mir auch die Freiheit Punkte zu setzen, wo eigentlich kein vollständiger Satz vorliegt, weil es mir auf die Pause ankommt und nicht auf korrekte Grammatik. Das geht natürlich nicht in allen Textformen, in einem Blog aber schon.

Versuchen Sie’s doch mal. Und wenn Sie Ihrem Gefühl nicht ganz trauen: einfach atmen, ganz bewusst atmen.