Sprachzauber

Zaubern ist eine feine Sache. Wer’s nicht kann, muss werben.

Wenn man als nüchterner Realist heutzutage Nachrichten hört, darf man schon staunen, wie viele Funktionen Sprache haben kann. Die meisten Leute denken ja zuerst an den Austausch von Fakten und Ansichten. Tatsächlich gibt es weitaus mehr

Funktionen, irgendwas zwischen sechs und zehn, je nach Forschungsrichtung. David Crystals „Cambridge Enzyklopädie der Sprache“ nennt unter anderem den Wunsch, Kontrolle über die Realität ausüben zu wollen. Ein anschauliches Beispiel hierfür sind Zauberformeln oder Flüche. In meiner Kindheit setzten wir das beim Quartett-Spiel ein: In unserer Version, dem Stechen, ging es darum, die anderen Spieler zu übertrumpfen. Man sagte also eine vermeintlich schlagende Eigenschaft seiner Karte auf – z. B. beim Auto-Quartett „220 Stuckis“ (Stundenkilometer) – und ließ dem das Zauberwort „Steck“ folgen. Dadurch hatte man selbst dann gewonnen, wenn die Karte eines Mitspielers die gleiche Leistung verzeichnete.

Realitätskontrolle, Realitätsverlust

Auch heute werden solche Zauberwörter eingesetzt. Erinnern wir uns an das „Basta!“ eines damals deutschen Kanzlers. Oder in jüngster Vergangenheit eines aus dem englischen Sprachraum: „Period“, zu Deutsch „Punkt“. Dieses Zauberwort soll bewirken, dass die vorhergehende Aussage unbedingt wahr ist und nicht in Zweifel gezogen werden kann. Also ähnlich wie bei „Steck“. Oder mehr noch wie „Immobulus“ bei Harry Potter, schließlich erstarren die Zuhörer vor Ehrfurcht.

Wenn also ein Sprecher z. B. sagt: „Die Sandburg von meinem Daddy ist die schönste und größte ever. Period.“, dann gilt das ab sofort als wahr und zieht unmittelbar einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde nach sich. Wendet dennoch jemand ein, dass sich die Aussage mit der Faktenlage nicht so ganz decke, weist man darauf hin, dass man über alternative Fakten verfüge. Im Übrigen könnten die Fakten des Zweiflers auch gar nicht der Wahrheit entsprechen, schließlich habe man ja „Period“ gesagt. Es müssten also „fake news“ sein, zu Deutsch etwa „getürkte Nachrichten“. Apropos: Ähnliches wird derzeit auch im türkischen Sprachraum praktiziert. Mit welchem Zauberwort, ist mir allerdings nicht bekannt.

Werbung und Wahrheit

In der Werbung hätten wir auch gerne solche Zauberworte, sind aber noch auf der Suche. Mitunter versuchen wir es mit dem Imperativ, z. B.: „Ruf – mich – an!“ Funktioniert aber nicht verlässlich. Beim Text setzen wir darum auf Gefühl oder auf die Überzeugungskraft der Fakten, „Benefits“ genannt. Echte Lügen sind dabei recht selten. Das verhindern schon recht scharfe Schwerter wie Prospekthaftung und ein argusäugiger Wettbewerb. Was nicht heißen soll, die Werbesprache sei der letzte Hort der Wahrheit. Natürlich sagen wir es besonders schön, galant oder gewitzt. Und wir sagen nicht immer alles. Verschweigen ist erlaubt: Selbst ein Angeklagter muss vor Gericht nichts sagen, was ihn belasten könnte.

Sooo sexy

Und wer sagt schon immer die ganze Wahrheit? Weil wir ja alle immer irgendwie werben, wenn wir reden, meistens für uns selbst. Der Linguist Wolfgang Steinig sieht darin sogar den Urgrund der Sprache. In seinem Buch „Als die Wörter tanzen lernten“ stellt er folgende These auf: Sprache habe sich nicht entwickelt, um Fakten auszutauschen, sondern um zu zeigen, was für ein toller Typ man ist. Das sei schon bei Fröschen so: Wer am tiefsten quakt, kriegt die meisten Weibchen ab. Menschliche Sprache ist natürlich komplizierter – schließlich sind auch unsere Beziehungen komplizierter. Und weil wir eben nicht zaubern können, ist sprechendes Werben ein menschlicher Dauermodus.

Wer das ignoriert, verliert. Wer also beispielsweise das Werben einstellt, sobald er die Frau seiner Träume erobert hat, wird sie schnell wieder los sein. Und wer denkt, er könne nach der Wahl das Werben um die Bürgergunst einstellen und einfach „Period“ sagen, wird womöglich bald schon entzaubert werden. Steck.